Während der ganzen Zeit, die wir in diesem provisorischen Restaurant sassen, kamen andere Häftlinge an unseren Tisch und versuchten, uns irgendetwas zu verkaufen oder uns anzuschnorren. Viktor erklärte uns auch, warum. Es dreht sich so ziemlich alles im Knast um Geld. Es gibt Gruppen, die für das passieren von Türen einen Peso verlangen. Hat man keinen Peso, geht man nicht durch diese Tür. So einfach ist das.
Ausserdem braucht man Geld für das tägliche Leben. So gibt zum Beispiel Vorschriften, was die Kleidung betrifft, diese muss beige sein, aber der Häftling muss sich diese selbst besorgen. Er kann sie sich entweder von einem Besucher mitbringen lassen, oder er muss sie von anderen Häftlingen kaufen. Auch andere Dinge des täglichen Lebens, wie z.B. Seife oder eine Zahnbürste muss der Häftling selbst besorgen.
Es gibt im Knast zwar einen offiziellen Supermarkt, in dem man alle diese Dinge zu normalen Preisen bekommt und einen regen Schwarzmarkt, auf dem man so ziemlich alles bekommt, das Problem im Knast ist, zu Geld zu kommen.
Offizielle Arbeitsmöglichkeiten (z.B. in der Gefängnisküche oder Wäscherei) gibt es nur sehr wenige, den meisten Insassen bleibt nur das, was ihre Besucher ihnen dalassen und diejenigen, die niemand besucht, müssen sich ihren Lebensunterhalt eben anderweitig verdienen. Indem sie in Handarbeit Taschen, Holzspielzeug und irgendwelchen Krimskrams herstellen und versuchen, den an die Besucher zu verkaufen.
Hier erklärte sich übrigens auch, was unten am Eingang abging. Nicht alle Gefangenen stehen oben am Fenster und warten auf ihren Besuch, entweder weil sie in der Rangordnung zu weit unten stehen, oder weil sie nicht mit Besuch rechnen. Deshalb dürfen unten am Eingang ein paar ausgesuchte Häftlinge als Empfangskommitee stehen. Kommt dann ein unerwarteter Besucher und der Besuchte ist nicht da, um ihn abzuholen, kann man einem Häftling aus dem Empfangskommitee sagen, wen man besuchen möchte und der macht sich dann auf die Suche, während ein anderer aus dem Empfangskommitee den Besucher nach oben begleitet. Selbstverständlich ist dieser Service nicht kostenlos und da jeder Geld verdienen will stürmt das ganze Empfangskommitee auf jeden Besucher ein und bietet lautstark seine Dienste an.
Natürlich gibt es auch Leute, die andere Gefangene erpressen oder die versuchen, die Besucher zu beklauen. Oder die den Schwarzmarkt bedienen. Dort zahlt man beispielsweise für ein Bier 60 Peso, dafür bekommt man draussen im Supermarkt locker einen Sechserpack.
In seiner Zelle lebt Viktor mit 29 anderen Häftlingen, ursprünglich war der 4 mal 5 Meter grosse Raum mal für 6 Menschen gedacht. Richtig eng wird es beim Schlafen, vier Mann pro Bett und der Rest auf dem Boden. Dass man sich in dieser Enge auf die Nerven geht ist nicht überraschend und Schlägereien gehören zum normalen Tagesablauf. Vom Ungeziefer, welches sich unter solchen Bedingungen sehr wohl fühlt, gar nicht zu reden. Es gibt auch Zellen, die mit 50 Mann belegt sind und Zellen, in denen tatsächlich nur die vorgesehenen 6 Menschen leben. Allerdings muss man 120.000 Peso (ca 6000 Euro) berappen, um sich in eine solche Luxus-Zelle verlegen zu lassen.
Angesprochen auf sein Gewicht erzählte uns Viktor vom Essen. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag, wobei nur einfachste Gerichte auf dem Speiseplan stehen und selbst die nach allen Regeln der Kunst gestreckt sind. Und manchmal, so erzählte er mit Ekel im Gesicht, riecht das Zeug nach nassem Hund und ist trotz knurrendem Magen nicht runterzukriegen. Zwar gibt es Taco-Stände, die besseres Essen anbieten, aber die sind teuer und Geld ist knapp. Und es gibt eine einfache Kochgelegenheit in der Zelle, aber auch dafür braucht man erstmal die nötigen Zutaten. Verhungern muss er zwar nicht, aber richtig satt wird er nur, wenn ihn seine Freundin oder seine Mutter besucht und was zu Essen mitbringt.
Entsprechend haben wir uns natürlich beim Essen zurückgehalten, ich hatte sowieso kaum Hunger. Ich lauschte seinen Erzählungen, versuchte mir das alles vorzustellen und schaute die Leute um uns herum an.
Die Stimmung war seltsam gedrückt, ich kann es nicht wirklich beschreiben, wie an einem schwülen Sommertag, ohne Aussicht auf ein abkühlendes Gewitter, an einem Platz, an dem jeder nur ist, weil er dort sein muss, aber liebend gerne woanders wäre.
Die Häftlinge waren in ihrer beigen Kleidung gut zu erkennen, es gab Typen mit fiesem durchdringendem Blick, denen ich nichtmal bei Tag auf der Strasse begenen wollte, aber die Mehrheit waren einfach normale Kerle, so wie Viktor. Die Besucher waren bunt gemischt, an einem Tisch sass ein junger Kerl, wahrscheinlich nicht mal zwanzig, schaute bedröppelt aus der Wäsche wie ein Kind, das man gerade mit der Hand in der Keksdose erwischt hat, ihm gegenüber eine ältere Frau, wahrscheinlich seine Mutter, die still vor sich hinweinte. Am Nachbartisch ein junges Paar, auch er eher ein durchschnittliches Milchgesicht, ihm gegenüber eine junge schwangere Frau. Dazwischen Familien, die wirkten, wie bei einem Sonntagsausflug im Park, nur nicht ganz so fröhlich. Ein Ehepaar mit zwei Kindern in Citlalis Alter. Schon der Gedanke, mein Kind nur einmal die Woche in dieser furchtbaren Atmosphäre zu sehen war mir unerträglich. Und immer wieder die Leute, die versuchten, ihre Handarbeiten zu verkaufen, manche von ihnen priesen kurz ihre Ware an und erzählten uns schnell ihre Geschichte, getrieben von einem seltsamen Mitteilungsbedürfnis, als hätten sie selten jemanden, der ihnen zuhört.
Als wir nach drei Stunden wieder draussen waren, war ich fertig, als hätte ich drei Tage lang am Stück durchgearbeitet. Klar, Knast ist kein Ponyhof und wenn man mal davon ausgeht, dass die Justiz einigermassen funktioniert, dürfte die Mehrheit der Insassen nicht grundlos da drinn sein. Aber diese Zustände sind einfach nur menschenunwürdig. Von Resozialisierung kann dabei gar keine Rede sein, in einer Umgebung, in der der Stärkere oder der mit den besseren Beziehungen zu den Wachen das letzte Wort hat. Und für jemanden, der wirklich unschuldig in diese Institution gerät, muss das schlicht die Hölle sein. Ich bewundere Viktor für seine Stärke, ich schätze, ich wäre an seiner Stelle nach spätestens vier Wochen durchgedreht.